Zulässigkeit der Berufung gegen zweites Versäumnisurteil
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 04.04.1989, 5 AZB 9/88
Leitsätze des Gerichts:
- § 64 Abs. 2 ArbGG 1979 regelt abschließend, unter welchen Voraussetzungen in vermögensrechtlichen Streitigkeiten Berufung gegen ein arbeitsgerichtliches Urteil eingelegt werden kann. Die entsprechenden Bestimmungen der Zivilprozeßordnung können nicht ergänzend herangezogen werden.
- Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist deshalb § 513 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht entsprechend anwendbar und Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil nur statthaft, wenn sie vom Arbeitsgericht zugelassen worden ist oder der Wert des Beschwerdegegenstandes 800,- DM übersteigt.
Gründe
I.
Die Beklagte wurde durch Versäumnisurteil vom 27. Oktober 1987 verurteilt, an die Klägerin 600,00 DM netto als rückständigen Lohn zu zahlen. Gegen dieses Urteil legte die Beklagte am 9. November 1987 form- und fristgerecht Einspruch ein, nahm diesen jedoch mit Schriftsatz vom 23. November 1987 in Höhe von 300,00 DM zurück.
Dem Termin am 17. Dezember 1987, zu dem das persönliche Erscheinen beider Parteien angeordnet war, blieb die Beklagte fern. Ihr Prozeßbevollmächtigter konnte keine Angaben über den Grund ihrer Abwesenheit machen.
Die Kammer schloß den Rechtsanwalt der Beklagten gemäß § 51 Abs. 2 ArbGG von der Prozeßführung aus, nachdem er sich nicht im einzelnen über den Abschluß des Arbeitsvertrags der Parteien äußern konnte. Gegen diesen Beschluß legte der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten Beschwerde ein und begründete diese damit, daß ihm kein rechtliches Gehör gewährt worden sei. Daraufhin forderte das Gericht den Prozeßbevollmächtigten auf, zur Sache vorzutragen. Nunmehr gab der Rechtsanwalt der Beklagten mehrere Erklärungen ab, zu denen die Klägerin und ihr Prozeßbevollmächtigter Stellung nahmen. Danach schloß die Kammer den Prozeßbevollmächtigten der Beklagten erneut von der Prozeßführung gemäß § 51 Abs. 2 ArbGG aus. Die Klägerin beantragte daraufhin, ein Versäumnisurteil gegen die Beklagte zu erlassen.
Das Arbeitsgericht verwarf durch zweites Versäumnisurteil den Einspruch gegen das Versäumnisurteil vom 27. Oktober 1987. Die Kosten des Rechtsstreits wurden der Beklagten auferlegt und der Streitwert auf 300,00 DM festgesetzt. In der Rechtsmittelbelehrung zu diesem Urteil heißt es u. a.:
„Gegen dieses Urteil kann von der Beklagten Berufung eingelegt werden.
Für die Klägerin ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
Die Berufung muß innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung dieses Urteils schriftlich beim Landesarbeitsgericht Hamm, Marker Allee 94, 4700 Hamm eingelegt werden.
Sie ist gleichzeitig oder innerhalb eines Monats nach ihrer Einlegung schriftlich zu begründen. Sie kann nur darauf abgestellt werden, daß der Fall der Säumnis nicht vorgelegen habe.“
Gegen das Urteil vom 17. Dezember 1987 legte die Beklagte Berufung ein, die sie im wesentlichen damit begründete, daß ihr Fehlen im Termin am 17. Dezember 1987 unverschuldet gewesen sei. Außerdem sei der Beschluß des Arbeitsgerichts, die Zulassung ihres Prozeßbevollmächtigten abzulehnen, rechtsfehlerhaft gewesen; in der Ladung sei nicht darauf hingewiesen worden, daß das Erscheinen der Parteien zur Sachaufklärung erforderlich sei.
Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten gegen das zweite Versäumnisurteil als unzulässig verworfen und die sofortige Beschwerde zugelassen.
II.
Die nach § 77 ArbGG, § 519 b Abs. 2 ZPO zulässige Revisionsbeschwerde der Beklagten ist nicht begründet.
1.
Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, die Berufung sei nicht schon deshalb zulässig, weil die Rechtsmittelbelehrung des arbeitsgerichtlichen Urteils den Hinweis enthielt, gegen das Urteil könne Berufung eingelegt werden.
Die Zulassung der Berufung ist nur wirksam, wenn sie in der Entscheidung des Arbeitsgerichts, also im Urteilstenor oder zumindest in den Urteilsgründen erfolgt. Durch eine falsche Rechtsmittelbelehrung wird die Anfechtbarkeit eines Urteils nicht begründet (BAGE 53, 396, 397 f. = AP Nr. 3 zu § 566 ZPO mit insoweit zustimmender Anm. von Walchshöfer).
2.
Das Landesarbeitsgericht hat weiterhin zu Recht angenommen, § 64 Abs. 2 ArbGG enthalte eine von den einschlägigen Vorschriften der Zivilprozeßordnung abweichende Regelung darüber, unter welchen Voraussetzungen gegen arbeitsgerichtliche Urteile die Berufung statthaft ist. Ein Rückgriff auf die entsprechenden Vorschriften der Zivilprozeßordnung ist daher nicht möglich. In vermögensrechtlichen Streitigkeiten ist deshalb gegen ein Versäumnisurteil eines Arbeitsgerichts, gegen das nach § 46 Abs. 2 ArbGG in Verb. mit §§ 495, 345 ZPO der Partei ein weiterer Einspruch nicht zusteht (sog. zweites Versäumnisurteil), die Berufung nur dann statthaft, wenn entweder der Beschwerdewert überschritten ist oder das Arbeitsgericht die Berufung zugelassen hat.
a)
Nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte regelt § 64 Abs. 2 ArbGG abschließend („kann Berufung nur eingelegt werden“), wann in einer vermögensrechtlichen Streitigkeit Berufung eingelegt werden kann. Das ist der Fall, wenn die Berufung in dem Urteil des Arbeitsgerichts zugelassen worden ist oder der Wert des Beschwerdegegenstandes 800,00 DM übersteigt. Diese Voraussetzungen über die Statthaftigkeit der Berufung unterscheiden sich von den Vorschriften der Zivilprozeßordnung, weil dort ein anderer Umfang der Beschwer bestimmt und außerdem die Zulassung der Berufung nicht vorgesehen ist. Auch schon vor der Neuregelung der Berufungsvorschriften im arbeitsgerichtlichen Verfahren durch das Gesetz vom 2. Juli 1979 (BGBl. I S. 853) bestanden nach § 64 Abs. 1 ArbGG 1953 entsprechende Unterschiede zu den Bestimmungen der ZPO insofern, als die Berufung in vermögensrechtlichen Streitigkeiten von der Höhe des Streitwerts, der 300,00 DM erreichen mußte, oder von der Zulassung durch das Arbeitsgericht abhängig war.
b)
Wegen dieser unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen über die Statthaftigkeit der Berufung kann die für das sogenannte zweites Versäumnisurteil in § 513 Abs. 2 ZPO eröffnete Möglichkeit, ohne Rücksicht auf den Beschwerdewert Berufung einzulegen, im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht entsprechend angewendet werden.
aa)
In § 513 Abs. 2 ZPO ist durch das Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren vom 3. Dezember 1976 (BGBl. I S. 3281) Satz 2 eingefügt worden. Darin heißt es, § 511 a sei nicht anzuwenden. Das bezieht sich auf den vorhergehenden Satz in § 513 Abs. 2, wonach ein Versäumnisurteil, gegen das der Einspruch an sich nicht statthaft ist, der Berufung insoweit unterliegt, als sie darauf gestützt wird, daß der Fall der Versäumung nicht vorgelegen habe. Im Verfahren vor den ordentlichen Gerichten hat der Gesetzgeber damit die bis zur Einfügung des Satzes 2 in § 513 Abs. 2 ZPO bestehende Voraussetzung für die Berufung beseitigt, daß in vermögensrechtlichen Streitigkeiten die Beschwer von – jetzt 700,00 DM – gegeben sein mußte. Damit bezweckte der Gesetzgeber, den Rechtsschutz in diesem Bereich zu verbessern (vgl. BT-Drucks. 7/5250, S. 11, zu Nr. 52 a).
bb)
Die für das Verfahren vor den ordentlichen Gerichten eröffnete Möglichkeit, gegen ein sogenanntes zweites Versäumnisurteil in dem durch § 513 Abs. 2 Satz 1 im übrigen eingeschränkten Umfange Berufung einzulegen, ohne daß es auf das Erreichen eines bestimmten Beschwerdewertes ankommt, gilt nicht für das arbeitsgerichtliche Verfahren. Der Gesetzgeber wollte und hat mit der Einfügung von Satz 2 in § 513 Abs. 2 ZPO erst die Statthaftigkeit der Berufung für das zweite Versäumnisurteil ohne Rücksicht auf den Beschwerdewert eröffnet. Für das arbeitsgerichtliche Verfahren sind die gesetzlichen Voraussetzungen für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels nicht geändert worden. Dabei hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 3. Dezember 1976 nicht nur Vorschriften der Zivilprozeßordnung, sondern auch des Arbeitsgerichtsgesetzes geändert. Dabei ist besonders darauf zu verweisen, daß berücksichtigt wurde, inwieweit Neuerungen im Bereich der Zivilprozeßordnung durch Änderung entsprechender Vorschriften des Arbeitsgerichtsgesetzes für das arbeitsgerichtliche Verfahren Anwendung finden sollten. So sind z. B. im Arbeitsgerichtsgesetz vorgesehen gewesene Änderungen für gegenstandslos erklärt worden, weil die entsprechende Änderung in der Zivilprozeßordnung nicht übernommen wurde; andererseits sind Bestimmungen des Arbeitsgerichtsgesetzes den Änderungen der Zivilprozeßordnung angepaßt worden (vgl. BT-Drucks. 7/5250, S. 17, Art. 3 zu Nr. 8 und zu Nr. 8 a). Im Hinblick auf diese gleichzeitige Änderung arbeitsgerichtlicher Vorschriften kann auch nicht davon ausgegangen werden, der Gesetzgeber habe übersehen, die Vorschriften über die Statthaftigkeit der Berufung im arbeitsgerichtlichen Verfahren den geänderten Bestimmungen der Zivilprozeßordnung anzugleichen. Hiervon kann um so weniger gesprochen werden, als der Gesetzgeber auch bei der umfassenden Neuregelung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens durch das Gesetz zur Beschleunigung und Bereinigung des Arbeitsgerichtsverfahrens vom 21. Mai 1979 (BGBl. I S. 545), das zur Fassung des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 2. Juli 1979 (BGBl. I S. 853) geführt hat, die Voraussetzungen für die Statthaftigkeit der Berufung nicht der Regelung in § 513 Abs. 2 Satz 2 ZPO angepaßt hat. Bei diesem Gesetz sind die Bestimmungen über die Zulässigkeit der Berufung im arbeitsgerichtlichen Verfahren zum Teil neu gestaltet worden. Insbesondere ist in vermögensrechtlichen Streitigkeiten neben der Zulassung der Berufung das Rechtsmittel von dem Wert des Beschwerdegegenstandes abhängig gemacht worden. Dabei war erörtert worden, den Wert des Beschwerdegegenstandes entsprechend der damaligen Regelung der Zivilprozeßordnung festzulegen. Die Bundesregierung war jedoch für eine Grenze von 1.000,00 DM eingetreten, da eine Entlastung der Landesarbeitsgerichte erzielt werden sollte, um das Ziel der Verfahrensbeschleunigung nicht zu gefährden. Aufgrund eines Vorschlages des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung wurde die Berufungssumme schließlich auf 800,00 DM festgelegt (vgl. Kurzprotokoll der 52. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 17. Januar 1979, S. 23 und 24). Im Gesetzgebungsverfahren ist im übrigen nicht erwogen worden, entsprechend der bereits in Kraft befindlichen Regelung der Zivilprozeßordnung die Berufungsmöglichkeit gegen sogenannte zweite Versäumnisurteile ohne Rücksicht auf die sonstigen Voraussetzungen für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels zuzulassen. Im Hinblick auf die geschilderten gesetzgeberischen Maßnahmen im Bereich des arbeitsgerichtlichen Verfahrens ist es deshalb nicht angängig, die in § 513 Abs. 2 Satz 2 ZPO geschaffene Regelung entsprechend anzuwenden. Soweit im arbeitsrechtlichen Schrifttum mit unterschiedlichen Begründungswegen die gegenteilige Auffassung vertreten wird, werden die bestehenden Aussagen des Gesetzgebers unter Berücksichtigung der vorstehend dargelegten Umstände in ihrer Gewichtung verkannt (vgl. zu den abweichenden Meinungen Grunsky, ArbGG, 5. Aufl., § 59 Rz 7; Rohlfing/Rewolle/Bader, ArbGG, Stand Juli 1987, § 64 Anm. 1; Dütz, RdA 1980, 91; Vollkommer, Anm. zu BAG AP Nr. 2 zu § 566 ZPO; Walchshöfer, Anm. zu BAG AP Nr. 3 zu § 566 ZPO; Stahlhacke, ArbGG, 2. Aufl., § 64 Rz 15, jeweils m. w. N.).
c)
Die Geltung des § 513 Abs. 2 Satz 2 ZPO läßt sich nicht über § 64 Abs. 6 ArbGG herleiten (a. A. insoweit LAG Hamm vom 10. September 1980 – 12 Sa 646/80 – EzA Nr. 2 zu § 345 ZPO). Die genannte Bestimmung besagt, für das Verfahren vor den Landesarbeitsgerichten gelten, soweit dieses Gesetz (d. h. das Arbeitsgerichtsgesetz) nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Berufung entsprechend. Die Bestimmung ist dahin zu verstehen, daß, wenn die Berufungsinstanz durch ein statthaftes Rechtsmittel eröffnet ist, das weitere Verfahren sich nach den in Bezug genommenen Vorschriften richtet. Schon deshalb kann nicht auf § 513 Abs. 2 Satz 2 ZPO zurückgegriffen werden, weil diese Bestimmung die Frage der Zulässigkeit des Rechtsmittels betrifft. Hinzu kommt, daß die Frage der Berufungsfähigkeit der im arbeitsgerichtlichen Verfahren ergangenen Urteile im Arbeitsgerichtsgesetz selbst geregelt ist und auch deshalb eine ergänzende Heranziehung der Vorschriften der Zivilprozeßordnung ausscheidet (ebenso zu der entsprechenden Frage für das Revisionsverfahren BAGE 53, 396 = AP Nr. 3 zu § 566 ZPO).
3.
Schließlich gebieten auch verfassungsrechtliche Erwägungen nicht, über den, wie dargelegt, klaren Wortlaut des Gesetzes hinaus zu einer Eröffnung der Berufungsinstanz zu gelangen. Richtig ist zwar, daß dann, wenn eine durch ein zweites Versäumnisurteil unterlegene Partei mit Erfolg geltend machen könnte, ein Fall der Versäumung i. S. von § 513 Abs. 2 Satz 1 ZPO habe nicht vorgelegen, der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt sein kann. Das erlaubt es jedoch nicht, ein unstatthaftes Rechtsmittel für zulässig anzusehen, wenn es auf die Behauptung einer Verletzung des rechtlichen Gehörs gestützt wird. Diese Auffassung entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (NJW 1965, 495) und des Bundesverwaltungsgerichts (MdR 1963, 74). Das Bundesverfassungsgericht hat dazu entschieden, daß diese Rechtsprechung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt. Sie sei insbesondere mit dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs vereinbar. Art. 103 Abs. 1 GG verlange nicht, daß gegen eine gerichtliche Entscheidung ein Rechtsmittel an ein Gericht höherer Instanz gegeben sein müsse, wenn dem Beschwerdeführer nach seiner Behauptung im ersten Rechtszug das rechtliche Gehör versagt worden ist (BVerfGE 28, 88, 95 f.; BVerfG Beschluß vom 10. August 1978 – 2 BvR 415/78 – AP Nr. 19 zu § 77 ArbGG 1953). Ferner ist ausgesprochen, daß das Grundrecht auf rechtliches Gehör keinen Schutz gegen Entscheidungen gewährt, die den Vortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise außer Betracht lassen (BVerfGE 54, 117, 123).
4.
Nach alledem war die Revisionsbeschwerde mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO zurückzuweisen.
Thomas Gehring Olderog