Besonderer Kündigungsschutz Ersatzpersonalratsmitglied
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 05.09.1986, 7 AZR 175/85
Leitsatz
Eine zeitweilige Verhinderung eines Personalratsmitglieds an der Ausübung seines Amtes liegt in der Regel vor, wenn das Personalratsmitglied sich krank gemeldet hat und dem Dienst fernbleibt. In diesem Falle tritt das nächstberufene Ersatzmitglied anstelle des abwesenden Personalratsmitglieds in den Personalrat ein und erwirbt damit den besonderen Kündigungsschutz des § 15 Abs. 2 Satz 1 KSchG, auch wenn sich später herausstellt, daß das ordentliche Personalratsmitglied nicht arbeitsunfähig krank war und deshalb unberechtigt dem Dienst ferngeblieben ist.
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen vom 15. Februar 1985 – 1 Sa 196/84 – wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob das Arbeitsverhältnis zwischen ihnen durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 22. November 1983 zum 16. Dezember 1983 beendet worden ist und ob die Beklagte die Klägerin über diesen Termin hinaus weiterzubeschäftigen hat.
Die Klägerin ist seit dem 1. April 1964 als Büroangestellte bei der Standortverwaltung B. beschäftigt. Ihre Dienststelle ist die dortige Marineortungsschule. Dort ist sie in der geheimen Lehrmittelsammlung tätig und hat Zugang zu Unterlagen, die dem besonderen Geheimhaltungsschutz unterliegen.
Sie ist Ersatzmitglied für das ordentliche Personalratsmitglied Frau L. und hat für sie am 13. und 20. Juni, 19. Juli und 2. August 1983 an Personalratssitzungen teilgenommen.
Die Klägerin war nach ärztlichem Attest bis zum 4. November 1983 arbeitsunfähig krank. Das Beendigungsdatum der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung änderte sie um auf den 8. November 1983 und nahm ihren Dienst statt am 7. November 1983 erst wieder am 9. November 1983 auf. An diesem Tag fand eine Unterredung zwischen ihr und dem Leiter der Dienststelle statt, in dem sie die Fälschung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zugestand.
Die Beschäftigungsbehörde leitete daraufhin das Kündigungsverfahren ein und informierte den Personalrat der Dienststelle mit Schreiben vom 17. November 1983 von der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung. Am 21. November 1983 fand aus diesem Grunde eine Sitzung des Personalrats statt.
Am 22. November 1983 meldete sich das Personalratsmitglied Frau L. krank und erschien nicht zum Dienst. Am selben Tag wurde der Klägerin vom Dienststellenleiter die schriftliche außerordentliche Kündigung zum 16. Dezember 1983 ausgehändigt. Die Zustimmung des Personalrats zu dieser Kündigung lag nicht vor.
Die Klägerin hat am 24. November 1983 Klage gegen diese Kündigung eingereicht und sie später um den Weiterbeschäftigungsantrag erweitert.
Im Verfahren erster Instanz hat sie geltend gemacht, sie genieße den Schutz des § 15 Abs. 2 Satz 1 KSchG, da sie auch am 22. November 1983 für ihre erkrankte Kollegin Frau L. in den Personalrat nachgerückt sei. Im übrigen sei ein wichtiger Grund für den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung nicht gegeben und die Frist des § 626 Abs. 2 BGB auch versäumt worden.
Die Klägerin hat beantragt,
1.
es wird festgestellt, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die von der Beklagten am 22. November 1983 zum 16. Dezember 1983 ausgesprochene außerordentliche Kündigung nicht aufgelöst worden ist;
2.
die Beklagte zu verpflichten, die Klägerin weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat sie ausgeführt, sowohl das unentschuldigte Fehlen als auch die Fälschung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seien ausreichende Gründe für eine außerordentliche Kündigung. Der Zustimmung des Personalrats zu dieser Kündigung habe es nicht bedurft. Jedenfalls sei es treuwidrig, wenn sich die Klägerin hierauf berufe, denn das ordentliche Personalratsmitglied Frau L. sei nicht tatsächlich erkrankt gewesen, und die Klägerin habe ihr Eintreten in den Personalrat dem Dienststellenleiter nicht mitgeteilt.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und festgestellt, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 22. November 1983 nicht aufgelöst worden ist und die Beklagte verpflichtet sei, die Klägerin weiterzubeschäftigen.
Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Begründung
Die Revision der Beklagten konnte keinen Erfolg haben, denn das Landesarbeitsgericht hat der Klage mit Recht stattgegeben.
I. Die streitbefangene Kündigung scheitert – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – an der fehlenden Zustimmung des Personalrats.
Nach § 47 Abs. 1 BPersVG bedarf die Kündigung eines Personalratsmitglieds der Zustimmung der Personalvertretung; fehlt es hieran, so ist die Kündigung unwirksam (§ 15 Abs. 2 Satz 1 KSchG).
Die Klägerin gehörte am Tage des Zugangs der Kündigungserklärung, dem 22. November 1983, als Ersatzmitglied in Vertretung des an diesem Tage verhinderten ordentlichen Personalratsmitglieds Frau L. dem Personalrat an. Darauf, ob an diesem Tage auch tatsächlich für die Klägerin Personalratstätigkeit angefallen ist, kommt es nicht an.
Ersatzmitglieder sind während der Dauer des Vertretungsfalles vollwertige Mitglieder des Personalrats und haben die gleichen Rechte und Pflichten wie ein ordentliches Personalratsmitglied. Da sie das ordentliche Personalratsmitglied nicht nur in einzelnen Amtsgeschäften vertreten, kann der besondere Kündigungsschutz des Personalratsmitglieds nach § 15 Abs. 2 Satz 1 KSchG für das Ersatzmitglied nicht auf die Tage beschränkt werden, an denen es tatsächlich Personalratsaufgaben wahrnimmt. Das Ersatzmitglied genießt den besonderen Kündigungsschutz während der gesamten Vertretungszeit. Auf deren Dauer kann es grundsätzlich nicht ankommen. Auch wenn das ordentliche Personalratsmitglied nur an einem Arbeitstag verhindert ist, muß die Arbeit eines vollzähligen Personalrats gesichert sein. Entsprechendes hat das Bundesarbeitsgericht wiederholt für den Fall der Verhinderung eines Betriebsratsmitglieds entschieden (Urteile vom 9. November 1977 – 5 AZR 175/76 –, vom 17. Januar 1979 – 5 AZR 891/77 – und vom 6. September 1979 – 2 AZR 548/7 7 – AP Nr. 3, 5, 7 zu § 15 KSchG 1969). Für die Personalvertretung im öffentlichen Dienst kann nichts anderes gelten. Auch die Vorschrift des § 31 Abs. 1 Satz 2 BPersVG stellt allein auf den Tatbestand der Verhinderung ab und macht den Eintritt des Ersatzmitglieds nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig. Der Eintritt des Ersatzmitglieds in den Personalrat vollzieht sich automatisch mit dem Eintritt des Verhinderungsfalles, und zwar auch ohne Rücksicht darauf, ob die Verhinderung des ordentlichen Personalratsmitglieds dem Personalratsvorsitzenden oder dem Ersatzmitglied bekannt ist und ob sie für eine gewisse Dauer anhält. Der Zweck der genannten Vorschrift besteht darin, im Interesse einer möglichst wirksamen Wahrnehmung personalvertretungsrechtlicher Belange stets für eine vollzählige, dem Wählerwillen entsprechende Besetzung der Personalvertretung zu sorgen und selbst kurze Unterbrechungen zu vermeiden (BVerwGE 49, 271 ff.).
Demnach ist die Klägerin als erstes Ersatzmitglied mit dem Arbeitsbeginn am 22. November 1983 automatisch in den Personalrat nachgerückt, wenn das ordentliche Personalratsmitglied Frau L. an diesem Tage tatsächlich verhindert war, sein Personalratsamt auszuüben. Einen solchen Verhinderungsfall hat das Landesarbeitsgericht im Ergebnis mit Recht angenommen.
Das Landesarbeitsgericht hat hierzu festgestellt, Frau L. habe an jenem Tage unter Kopfschmerzen und Brechreiz gelitten, sie sei mithin krank und deswegen verhindert gewesen. Diese Feststellung beruht auf der erstinstanzlichen Zeugenaussage der Frau L., die das Landesarbeitsgericht anders gewürdigt hat als das Arbeitsgericht. Dieses hatte sich durch die Aussage nicht davon überzeugen können, daß Frau L. tatsächlich arbeitsunfähig krank war, und deshalb ihre Verhinderung als nicht bewiesen angesehen. Das Landesarbeitsgericht hat sich mit dieser Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts, die sich auch auf den persönlichen Eindruck und das Verhalten der Zeugin bei der Beweisaufnahme stützte, nicht auseinandergesetzt, sondern ohne nähere Begründung und ohne erneute Vernehmung der Zeugin deren Aussage für glaubhaft befunden. Dieses Verfahren wird von der Revision mit Recht als Verstoß gegen § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO gerügt. Läßt sich die vom Erstgericht vorgenommene Beweiswürdigung nicht von vornherein als fehlerhaft widerlegen und stützt sich diese zudem auf den persönlichen Eindruck des Zeugen und sein Verhalten bei der Beweisaufnahme, so muß das Berufungsgericht den Zeugen erneut vernehmen, bevor es dessen Aussage anders als das Erstgericht würdigt und zu einer anderen Tatsachenfeststellung gelangt (BAG Urteil vom 6. Dezember 1963 – 5 AZR 234/63 – AP Nr. 1 zu § 286 ZPO). Trotz des gerügten Verfahrensfehlers erweist sich das angefochtene Urteil jedoch im Ergebnis als zutreffend; denn auf die Frage, ob Frau L., tatsächlich arbeitsunfähig krank gewesen ist, kommt es für das Vorliegen eines Verhinderungsfalles nicht entscheidend an.
Unstreitig ist Frau L. am 22. November 1983 nicht zum Dienst erschienen; sie hatte sich am Vormittag dieses Tages bei ihrer Dienststelle telefonisch krank gemeldet. Das reicht zur Annahme eines Verhinderungsfalles aus.
Zwar liegt kein Verhinderungsfall vor, wenn das ordentliche Personalratsmitglied tatsächlich in der Lage ist, sein Amt auszuüben, sich jedoch aus persönlichen Beweggründen dessen enthält. Das Personalratsmitglied hat es nicht in der Hand, willkürlich einen Vertretungsfall herbeizuführen und sich durch ein Ersatzmitglied vertreten zu lassen; es kann sich nicht für verhindert erklären, ohne daß eine Verhinderung objektiv vorliegt. Vielmehr hat der Personalratsvorsitzende, dem das verhinderte Personalratsmitglied die Gründe seiner Verhinderung unverzüglich mitteilen muß, jeweils zu prüfen, ob eine Verhinderung gegeben ist; er darf nicht ohne genaue Prüfung und in eigener willkürlicher Auslegung des gesetzlichen Verhinderungsbegriffs einfach von einer Verhinderung ausgehen (BVerwGE 49, 271, 274). Erscheint das ordentliche Personalratsmitglied jedoch nicht zum Dienst und hat es sich bei seiner Dienststelle krank gemeldet, so müssen der Personalratsvorsitzende und die übrigen Beteiligen, also insbesondere auch das in einem solchen Falle nachrückende Ersatzmitglied, mangels gegenteiliger eindeutiger und sicherer Anhaltspunkte davon ausgehen, daß das Personalratsmitglied tatsächlich arbeitsunfähig krank und dadurch an der Ausübung seines Personalratsamtes verhindert ist. Es besteht für die Beteiligten regelmäßig keine Möglichkeit, die Richtigkeit der Krankmeldung sofort nachzuprüfen. Vielmehr bleibt in einem derartigen Falle zur Sicherung der Amtsführung eines vollzähligen Personalrats nichts anderes übrig, als daß der Personalratsvorsitzende das Ersatzmitglied heranzieht und daß dieses nunmehr die Aufgaben eines Personalratsmitglieds übernimmt. Dann aber bedarf das Ersatzmitglied auch des besonderen Kündigungsschutzes, den das Gesetz den Mitgliedern der Personalvertretung im Interesse einer unabhängigen Amtsführung gewährt. Dieser besondere gesetzliche Kündigungsschutz würde seinen Zweck verfehlen, wenn er von der späteren Bestätigung des von dem ordentlichen Personalratsmitglied angegebenen Verhinderungsgrundes abhinge.
Die Klägerin könnte sich auf den besonderen Kündigungsschutz als nachgerücktes Ersatzmitglied des Personalrats allerdings dann nicht berufen, wenn sie diese Rechtsposition durch rechtsmißbräuchliches Zusammenspiel mit Frau L. erlangt hätte, wenn diese also eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nur vorgeschoben hätte, um der Klägerin den besonderen Kündigungsschutz eines Personalratsmitglieds zu verschaffen, und die Klägerin dies gewußt hatte. Für eine derartige Annahme, deren Voraussetzungen die Beklagte darlegen und beweisen müßte, fehlt es jedoch an hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten.
Entgegen der Ansicht der Revision entfällt der besondere Kündigungsschutz nach § 15 Abs. 2 Satz 1 KSchG hier auch nicht etwa deswegen, weil die Standortverwaltung als kundigungsberechtigte Dienststelle der Beklagten vom Eintritt der Klägerin in den Personalrat am Kündigungstage nichts wußte. Die Dienststelle hätte sich hierüber durch entsprechende telefonische Antrage bei der Beschäftigungsdienststelle der Klägerin unschwer Kenntnis verschaffen können (vgl. BAG Urteil vom 9. November 1977 – 5 AZR 175/76 – AP Nr. 3 zu § 15 KSchG 1969, zu 1 e der Gründe). Bei einem an erster Stelle der Liste stehenden Ersatzmitglied muß stets damit gerechnet werden, daß es wegen zeitweiliger Verhinderung eines ordentlichen Personalratsmitglieds vorübergehend in den Personalrat nachrückt. Die kündigungsberechtigte Stelle hat deshalb allen Anlaß, sich unmittelbar vor dem Ausspruch einer beabsichtigten Kündigung eines Ersatzmitglieds hierüber Gewißheit zu verschaffen. Hat sie dies unterlassen, so kann das nicht dazu führen, dem nachgerückten Ersatzmitglied den besonderen Kündigungsschutz zu versagen.
Die Klägerin handelte auch nicht treuwidrig, wenn sie die Beklagte bei der Übergabe des Kündigungsschreibens nicht auf ihre Personalratseigenschaft hinwies. Zu einem solchen Hinweis war sie nicht verpflichtet, zumal sie davon ausgehen konnte, daß ihre Beschäftigungsdienststelle den Sachverhalt kannte; denn Frau L. hatte sich dort krank gemeldet.
Ist die außerordentliche Kündigung mithin bereits nach § 15 Abs. 2 Satz 1 KSchG nichtig, bedarf es keiner Entscheidung, ob für diese Kündigung ein wichtiger Grund (§ 626 Abs. 1 BGB) vorgelegen hat.
II. Dem Weiterbeschäftigungsanspruch hat das Landesarbeitsgericht zu Recht stattgegeben, so daß auch insoweit die Revision zurückzuweisen war.
Der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts hat durch Beschluß vom 27. Februar 1985 – GS 1/84 – (BAGE 48, 122 = AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht) entschieden, daß der gekündigte Arbeitnehmer auch außerhalb der Regelung des § 102 Abs. 5 BetrVG, § 79 Abs. 2 BPersVG einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung über den Entlassungszeitpunkt hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluß des Kündigungsschutzprozesses hat, wenn die Kündigung unwirksam ist und überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers einer solchen Beschäftigung nicht entgegenstehen. Dieser Weiterbeschäftigungsanspruch besteht, wenn im Kündigungsschutzprozeß ein die Instanz abschließendes Urteil ergeht, das die Unwirksamkeit der Kündigung und damit den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses feststellt. Dieses Urteil wirkt sich, solange es besteht, dahin aus, daß die Ungewißheit des endgültigen Prozeßausgangs für sich allein ein überwiegendes Gegeninteresse des Arbeitgebers nicht mehr begründen kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
Seidensticker Roeper Steckhan
Scholz Jubelgas
_____
Vorinstanzen:
LAG Bremen, Urteil vom 15.02.1985, 1 Sa 196/84
ArbG Bremerhaven, Urteil vom 27.06.1984, 2 Ca 308/84
> BAG, 08.09.2011 – 2 AZR 388/10