Divergenzbeschwerde – Entbehrlichkeit einer Abmahnung vor fristloser Kündigung – rechtliches Gehör im Prozess
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 10.02.2009, 3 AZN 1003/08
Tenor
- Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 20. Mai 2008 – 8 Sa 48/07 – aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. - Der Streitwert wird auf 12.600,00 Euro festgesetzt.
Gründe
3 AZN 1003/08 > Rn 1
I. Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung des mit dem Kläger begründeten Arbeitsverhältnisses.
3 AZN 1003/08 > Rn 2
Der am 11. Juli 1949 geborene Kläger ist seit dem 27. Juli 1971 bei der Beklagten, zuletzt als Maschinenführer tätig. Am 8. Februar 2007 wurde im Rahmen einer Taschenkontrolle auch die Tasche des Klägers kontrolliert. Hierbei wurden zehn Paar Arbeitshandschuhe aus Wolle und ca. 500 g Unterlegscheiben in diversen Größen vorgefunden. Die Beklagte kündigte sodann das mit dem Kläger begründete Arbeitsverhältnis mit Kündigung vom 20. Februar 2007 außerordentlich. Der Kläger hat sich gegen diese Kündigung zur Wehr gesetzt. Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 26. Juni 2007 abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 20. Mai 2008 – 8 Sa 48/07 – zurückgewiesen. Es hat die Revision gegen seine Entscheidung nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner auf Divergenz und eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gestützten Nichtzulassungsbeschwerde.
3 AZN 1003/08 > Rn 3
II. Die Beschwerde hat Erfolg. Zwar dringt der Kläger mit seiner Divergenzbeschwerde nicht durch. Der Rechtsstreit ist jedoch wegen einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
3 AZN 1003/08 > Rn 4
1. Die Divergenzbeschwerde ist unbegründet.
3 AZN 1003/08 > Rn 5
a) Gem. § 72a Abs. 1 iVm. § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG kann eine Nichtzulassungsbeschwerde wegen Divergenz nur darauf gestützt werden, dass in der anzufechtenden Entscheidung ein abstrakter Rechtssatz aufgestellt wird, der von einem abstrakten Rechtssatz in einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts oder eines anderen der in § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG genannten Gerichte zu derselben Rechtsfrage abweicht (BAG 17. November 1988 – 4 AZN 504/88 – AP ArbGG 1979 § 72a Divergenz Nr. 22) . Dabei liegt ein abstrakter Rechtssatz nur vor, wenn durch fallübergreifende Ausführungen ein Grundsatz aufgestellt wird, der für eine Vielzahl von Fällen Geltung beansprucht. Er kann sich auch aus scheinbar einzelfallbezogenen Ausführungen ergeben. Jedoch müssen sich die voneinander abweichenden abstrakten Rechtssätze aus der anzufechtenden und der angezogenen Entscheidung unmittelbar ergeben und so deutlich ablesbar sein, dass nicht zweifelhaft bleibt, welche abstrakten Rechtssätze die Entscheidungen jeweils aufgestellt haben (BAG 26. Juli 1994 – 1 AZN 324/94 – zu II 1 der Gründe, NZA 1995, 807) . Eine lediglich fehlerhafte oder den Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht entsprechende Rechtsanwendung vermag eine rechtserhebliche Divergenz demgegenüber nicht zu begründen (BAG 23. Juli 1996 – 1 ABN 18/96 – zu II 1 der Gründe, AP ArbGG 1979 § 72a Divergenz Nr. 33 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 76) .
3 AZN 1003/08 > Rn 6
b) In Anwendung dieser Grundsätze war die Revision nicht wegen Divergenz zuzulassen.
3 AZN 1003/08 > Rn 7
Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht in der anzufechtenden Entscheidung nicht die folgenden Rechtssätze aufgestellt:
„Bei versuchten Diebstählen bei einem Wert des Diebesguts von etwa 10,00 bis 12,00 Euro ist eine Abmahnung nicht erforderlich, da das Vertrauen nicht wieder hergestellt werden kann.“
„Diebstähle bei einem Gesamtwert von 10,00 bis 12,00 Euro rechtfertigen grundsätzlich ohne weitere Prüfung der Umstände des Einzelfalls die außerordentliche Beendigung eines Arbeitsverhältnisses.“
3 AZN 1003/08 > Rn 8
Zwar ist das Landesarbeitsgericht in der anzufechtenden Entscheidung zu dem Ergebnis gelangt, dass im zu entscheidenden Rechtsstreit eine vorherige Abmahnung nicht erforderlich war. Grund hierfür war jedoch nicht der Wert des Diebesguts. Vielmehr hat das Berufungsgericht darauf abgestellt, dass bei besonders schwerwiegenden Verstößen, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne Weiteres erkennbar sei und bei denen es offensichtlich ausgeschlossen sei, dass der Arbeitgeber die Verstöße hinnehme, eine Abmahnung nicht erforderlich sei. Nur in solchen Fällen könne eine Wiederherstellung des für das Arbeitsverhältnis notwendigen Vertrauens nicht erwartet werden. Ebenso wenig hat das Landesarbeitsgericht den zweiten, vom Kläger angeführten Rechtssatz aufgestellt. Vielmehr hat das Berufungsgericht auf eine weitere Prüfung der Umstände des Einzelfalls gerade nicht verzichtet. Es ist insoweit dem Urteil des Arbeitsgerichts gefolgt und hat in dem Zusammenhang auf dessen Ausführungen unter 1. e) der Entscheidungsgründe Bezug genommen. Hier hatte das Arbeitsgericht umfangreich das Bestandsinteresse des Klägers gegenüber dem Auflösungsinteresse der Beklagten abgewogen.
3 AZN 1003/08 > Rn 9
2. Zu Recht beruft sich der Kläger jedoch auf eine entscheidungserhebliche Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 72 Abs. 2 Nr. 3, § 72a Abs. 1 ArbGG, Art. 103 Abs. 1 GG) .
3 AZN 1003/08 > Rn 10
a) Wird mit einer Nichtzulassungsbeschwerde eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht, muss nach § 72a Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ArbGG die Beschwerdebegründung die Darlegung der Verletzung dieses Anspruchs und deren Entscheidungserheblichkeit enthalten. Hierzu hat der Beschwerdeführer substantiiert vorzutragen. Will er geltend machen, das Landesarbeitsgericht habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es seine Ausführungen nicht berücksichtigt habe, muss er konkret und im Einzelnen schlüssig dartun, welches wesentliche und entscheidungserhebliche Vorbringen das Landesarbeitsgericht bei seiner Entscheidung übergangen haben soll (BAG 31. Mai 2006 – 5 AZR 342/06 (F) – BAGE 118, 229) . Demnach hat der Beschwerdeführer auch nachvollziehbar darzulegen, dass das Landesarbeitsgericht nach seiner Argumentationslinie unter Berücksichtigung des entsprechenden Gesichtspunkts möglicherweise anders entschieden hätte. Will der Beschwerdeführer geltend machen, ein angebotener Beweis sei nicht erhoben worden, so muss er vortragen, wo und bei welcher Gelegenheit bzw. in welchem Schriftsatz mit konkreter Blattzahl er diesen Vortrag jeweils geleistet hat. Diesen Anforderungen ist wie bei einer Verfahrensrüge auch im Beschwerdeverfahren nachzukommen (BAG 23. Mai 2007 – 5 AZN 491/07 -; 18. Oktober 2000 – 2 AZR 380/99 – BAGE 96, 123) .
3 AZN 1003/08 > Rn 11
b) Die Beschwerdebegründung genügt diesen Anforderungen. Der Kläger hat geltend gemacht, nicht nur in seinem Schriftsatz vom 23. Mai 2007, sondern auch in seiner Berufungsbegründung vom 25. September 2007 dem Vorbringen der Beklagten entgegengetreten zu sein, wonach die Mitarbeiter in der Lage gewesen seien, die Handschuhe aus einem unverschlossenen Schrank zu entnehmen. Vielmehr seien die Handschuhe bei der Beklagten in einem verschlossenen Schrank gelagert. Für diesen Schrank besäßen ausschließlich die Kollegen S, B und T einen Schlüssel. Er, der Kläger, habe in den letzten Monaten Arbeitshandschuhe durch Nachfrage bei den vorbeschriebenen Zeugen und Kollegen nur ausgetauscht, wenn seine Handschuhe kaputt gewesen seien, was die Kollegen bestätigen könnten. Zu keinem Zeitpunkt seien ihm beispielsweise zehn Handschuhe oder eine Mehrzahl an Handschuhen aus dem Schrank ausgegeben worden. Aus dem Grunde habe er auch nicht die Handschuhe wie ein „Hamster“ sammeln können. Deshalb sei es ihm nicht möglich gewesen, an zehn Paar Handschuhe heranzukommen, um diese später zu stehlen. Dieses Vorbringen und den Beweisantritt habe das Landesarbeitsgericht nicht übergehen dürfen.
3 AZN 1003/08 > Rn 12
c) Der Kläger macht auch in der Sache erfolgreich eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend, § 72 Abs. 2 Nr. 3 ArbGG, Art. 103 GG. Dies führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht, § 72a Abs. 7 ArbGG.
3 AZN 1003/08 > Rn 13
aa) Der in Art. 103 Abs. 1 GG verankerte Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten das Recht, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern (BVerfG 17. Mai 1983 – 2 BvR 731/80 – BVerfGE 64, 135) . Nach Art. 103 Abs. 1 GG sind die Gerichte verpflichtet, das Vorbringen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Urteilsfindung in Erwägung zu ziehen (BVerfG 23. Juni 1999 – 2 BvR 762/98 – NJW 2000, 131) und erhebliche Beweisantritte zu berücksichtigen (BVerfG 22. November 2004 – 1 BvR 1935/03 – NJW 2005, 1487; 31. Oktober 1990 – 2 BvR 183/90 – NJW 1991, 285) . Die Nichtberücksichtigung eines entscheidungserheblichen Beweisangebots verletzt den Anspruch der betroffenen Partei auf rechtliches Gehör, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfG 8. November 1978 – 1 BvR 158/78 – BVerfGE 50, 32; 20. April 1982 – 1 BvR 1429/81 – BVerfGE 60, 250; 30. Januar 1985 – 1 BvR 393/84 – BVerfGE 69, 141) .
3 AZN 1003/08 > Rn 14
bb) Nach diesen Maßstäben ist Art. 103 Abs. 1 GG hier verletzt.
3 AZN 1003/08 > Rn 15
Das Landesarbeitsgericht hat gemeint, der Kläger habe Gelegenheit gehabt, an die entsprechenden Gegenstände heranzukommen. Auch wenn ihm jeweils nur ein Paar Handschuhe herausgegeben worden seien und nicht etwa ein ganzer 10er-Pack Handschuhe, wie sie in der Tasche vorgefunden worden seien, so habe dennoch die Möglichkeit bestanden, auch diese einzelnen Paare zu sammeln. Darüber hinaus hätten sich in seinem Arbeitsbereich unverschlossene Schränke befunden, in denen ebenfalls Arbeitshandschuhe wie diejenigen, die der Kläger bei sich geführt habe, verwahrt würden und aus denen sich die Arbeitnehmer bei Bedarf bedienen dürften. Letzteres war vom Kläger jedoch mit dem Vorbringen bestritten worden, dass Handschuhe allein in einem verschlossenen Schrank aufbewahrt würden, für den lediglich drei Mitarbeiter einen Schlüssel hätten. Dieses Vorbringen und den entsprechenden Beweisantritt hat das Landesarbeitsgericht übergangen.
3 AZN 1003/08 > Rn 16
d) Das Landesarbeitsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör auch in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Bei Berücksichtigung seines Vorbringens und Vernehmung der Mitarbeiter als Zeugen wäre es möglicherweise zu einem anderen Ergebnis gelangt.
3 AZN 1003/08 > Rn 17
e) Die Verletzung des Klägers in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör führt gemäß § 72a Abs. 7 ArbGG zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht.
3 AZN 1003/08 > Rn 18
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 GKG.
Reinecke Kremhelmer Schlewing
Schmidt G. Hauschild