Nachwirkung eines Tarifvertrages
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13.07.1994, 4 AZR 555/93
Tatbestand
Die Parteien streiten im wesentlichen um die Anwendung eines Vergütungstarifvertrages auf das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis und um die zutreffende Eingruppierung des Klägers.
Der Kläger, der der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen angehört, wurde durch schriftlichen Arbeitsvertrag als Heizwart beim VEB Gebäudewirtschaft R eingestellt. Der Kläger verfügt über eine für die Ausübung seiner Tätigkeit erforderliche Berufsausbildung. Der Betrieb des VEB wurde jedenfalls nach dem 3. Oktober 1990 von der Beklagten als unselbständiger Eigenbetrieb fortgeführt. Zwischen den Parteien bestehen unterschiedliche Auffassungen, ob der Betrieb des VEB Gebäudewirtschaft bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf die Beklagte übergegangen ist.
Unter dem 3. August 1990 schlossen der Verband der Wohnungsgenossenschaften der DDR e. V. und die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen/DDR, die Deutsche Angestellten Gewerkschaft/DDR sowie die Industriegewerkschaft Bau-Holz mit Wirkung ab dem 1. Juli 1990 einen Vergütungstarifvertrag. Dieser Tarifvertrag galt u. a. für das Land Mecklenburg-Vorpommern und fachlich für Unternehmen aller Rechtsformen, die wohnungswirtschaftliche Leistungen erbringen. In § 11 des Tarifvertrages hieß es ursprünglich, er gelte nur unter der Voraussetzung, daß die Regierung der DDR die entsprechenden Löhne, Gehälter und Ausbildungsvergütungen zweckgebunden bereitstelle. Diese Vorschrift ist durch eine u. a. von den Parteien des Vergütungstarifvertrages unterzeichnete Protokollnotiz vom 21. September 1990 ersatzlos gestrichen worden. In der Protokollnotiz wird weiter der Beginn der Geltung des Vergütungstarifvertrages auf den 1. September 1990 neu festgelegt.
Der ehemalige Geschäftsführer des VEB R erklärte am 27. April 1990 schriftlich den Beitritt zum Verband Mecklenburgisch-Vorpommerscher Wohnungsunternehmen. Dieser Verband war seit dem 30. Juni 1990 Mitglied im Verband der Wohnungsgenossenschaften der DDR e. V.
Die Beklagte war zu keiner Zeit Mitglied des Verbandes der Wohnungsgenossenschaften der DDR e. V.
Mit Schreiben vom 19. November 1990 hat der Kläger seinen Anspruch auf Zahlung der Vergütung entsprechend der LohnGr. IV des Vergütungstarifvertrages erfolglos geltend gemacht. Mit der vorliegenden Klage begehrt er die Zahlung der Vergütungsdifferenz für den Zeitraum vom 1. September 1990 bis zum 30. Juni 1991 in rechnerisch unstreitiger Höhe von 5.523,44 DM brutto.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, auf sein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten finde seit dem 1. September 1990 der Vergütungstarifvertrag vom 3. August 1990 Anwendung. Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrages sei der VEB Gebäudewirtschaft R über seine Mitgliedschaft im Landesverband tarifgebunden gewesen. Diese Tarifbindung habe sich nach Übernahme des VEB Gebäudewirtschaft durch die Beklagte bei dieser fortgesetzt. Seine arbeitsvertragliche Tätigkeit als Heizwart entspreche der LohnGr. IV des Vergütungstarifvertrages.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 5.523,44 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag seit dem 15. Mai 1991 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, sie sei zu keiner Zeit an den Vergütungstarifvertrag gebunden gewesen. Bereits vor dessen Abschluß sei das Arbeitsverhältnis des Klägers nach den Vorschriften des Kommunalvermögensgesetzes auf sie übergegangen. Daneben sei der abgeschlossene Vergütungstarifvertrag unwirksam, weil es sich bei dem Verband der Wohnungsgenossenschaften der DDR e. V. nicht um einen tariffähigen Arbeitgeberverband gehandelt habe. Dieser sei nicht durch selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Handeln seiner Verbandsmitglieder gegründet worden. Schließlich stelle die Bindung an den abgeschlossenen Tarifvertrag eine Verletzung ihres Rechts auf kommunale Selbstverwaltung und ihrer Koalitionsfreiheit dar.
Das Kreisgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter, während der Kläger die Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der Kläger hat aufgrund seiner ausgeübten Tätigkeit für den Zeitraum vom 1. September 1990 bis 30. Juni 1991 Anspruch auf Vergütung nach der LohnGr. IV des Vergütungstarifvertrages vom 3. August/21. September 1990.
I. Auf das Arbeitsverhältnis des Klägers mit dem VEB Gebäudewirtschaft R fand bis zum 3. Oktober 1990 der Vergütungstarifvertrag vom 3. August/21. September 1990 kraft beiderseitiger Tarifbindung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG) Anwendung.
Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit den Senat bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 561 Abs. 2 ZPO) waren der Kläger und der VEB Gebäudewirtschaft als Rechtsvorgänger der Beklagten zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vergütungstarifvertrages am 21. September 1990 Mitglieder der Tarifvertragsparteien bzw. über ihre Verbandsmitgliedschaft dem auf Arbeitgeberseite abschließenden Verband der Wohnungsgenossenschaften der DDR e. V. angeschlossen.
1. Der Vergütungstarifvertrag vom 3. August/21. September 1990 ist wirksam zustande gekommen und begegnet inhaltlich keinen rechtlichen Bedenken.
a) Die von der Beklagten gegen die Tariffähigkeit des Verbandes der Wohnungsgenossenschaften der DDR e. V. erhobenen Angriffe greifen nicht durch.
Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei dieser Vereinigung um einen öffentlich-rechtlichen Zwangsverband handelt, wie die Revision meint. Der Verband der Wohnungsgenossenschaften wäre selbst dann tariffähig, wenn die Vereinsmitgliedschaft nicht auf einem frei gefaßten Entschluß seiner Mitglieder beruht. In § 4 Abs. 2 der „Anordnung über die Befugnisse des Verbandes der Wohnungsgenossenschaften der DDR in Rechtsnachfolge des Prüfungsverbandes der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften“ vom 9. März 1990 (GBl I S. 180) wird dem Wohnungsgenossenschaftsverband ausdrücklich die Tariffähigkeit verliehen (vgl. zur Zulässigkeit der Verleihung der Tariffähigkeit für einen Zwangsverband durch Gesetz BVerfGE 20, 312 = AP Nr. 24 zu § 2 TVG). Es bestehen entgegen der Auffassung der Revision keine Anhaltspunkte dafür, daß der Verband nicht durch freies und selbstbestimmtes Handeln seiner Mitglieder gegründet worden ist. In § 2 der genannten Anordnung wird lediglich die Rechtsnachfolge für den Prüfungsverband der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften angeordnet. Eine Zwangsmitgliedschaft für einzelne Vereinsmitglieder ist in dieser Regelung nicht enthalten. In § 3 Abs. 1 wird den Wohnungswirtschaftsunternehmen lediglich die Möglichkeit einer Verbandsmitgliedschaft eingeräumt.
b) Gegen die Bestimmungen des Tarifvertrages in der Fassung vom 21. September 1990 bestehen keine durchgreifenden Bedenken, wie der Senat bereits entschieden hat (BAG Urteil vom 10. November 1993 – 4 AZR 375/92 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen).
Der Tarifvertrag enthielt zwar ursprünglich die aufschiebende Bedingung, wonach er nur in Kraft treten sollte, wenn die Regierung der DDR die zu seiner Finanzierung erforderlichen Mittel zweckgebunden zur Verfügung stellt. Die Tarifvertragsparteien haben aber diese rechtlich zweifelhafte Festlegung in der als „Protokollnotiz“ bezeichneten Vereinbarung vom 21. September 1990 ersatzlos gestrichen und gleichzeitig das Inkrafttreten des Tarifvertrages ohne Einschränkung auf den 1. September 1990 neu festgelegt. Die Protokollnotiz stellt den Abschluß eines eigenständigen Tarifvertrages i.S.d. § 1 TVG dar. Sie enthält eine statische Bezugnahme auf den Text der Vereinbarung vom 3. August 1990, der inhaltlich Gegenstand des am 21. September 1990 erfolgten Neuabschlusses geworden ist. Hiervon ausgenommen ist lediglich die geänderte Vereinbarung zum Inkrafttreten des Tarifvertrages (Nr. I.2).
Die Protokollnotiz erfüllt ansonsten die Formerfordernisse, die an einen Tarifvertrag zu stellen sind. Der Text ist schriftlich niedergelegt und von den Verhandlungsführern im Namen der beteiligten Verbände unterzeichnet worden. Da der Kläger in diesem Rechtsstreit seine Zahlungsansprüche auf den Zeitraum ab September 1990 beschränkt hat, ist eine Entscheidung über die Rechtswirksamkeit der ursprünglichen Vereinbarung vom 3. August 1990 entbehrlich.
2. Der Kläger war zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vergütungstarifvertrages am 21. September 1990 Arbeitnehmer des VEB Gebäudewirtschaft R . Sein Arbeitsverhältnis ist vor diesem Zeitpunkt weder durch gesetzlichen noch rechtsgeschäftlichen Betriebsübergang auf die Beklagte übergegangen.
Entgegen der Auffassung der Revision hat ein Betriebsinhaberwechsel nicht bereits durch das Gesetz über das Vermögen der Gemeinden, Städte und Landkreise (Kommunalvermögensgesetz – KVG) der früheren DDR vom 6. Juli 1990 (GBl I S. 660) auf die Beklagte stattgefunden. Zwar gehen nach § 2 Abs. 1 Buchst. a KVG alle volkseigenen Betriebe, die zur Erfüllung der kommunalen Selbstverwaltungsaufgaben benötigt werden, in das Vermögen der Gemeinden und Städte über. Hierzu zählen nach § 6 Abs. 1 4. Spiegelstrich KVG auch die Wohnungswirtschaftsbetriebe als „Betriebe und Einrichtungen, die zur Erhaltung des kommunalen Wohnungsfonds“ erforderlich sind. Das Inkrafttreten des Kommunalvermögensgesetzes allein bewirkte aber keinen gesetzlichen Übergang der Wohnungswirtschaftsbetriebe auf die Gemeinden, Städte oder Landkreise. Es stellte lediglich eine Kompetenznorm für die Übertragung der wohnungswirtschaftlichen Vermögenswerte dar. Voraussetzung hierfür war nach § 7 Abs. 1 KVG ein schriftlicher Antrag der Kommune gegenüber der zuständigen Behörde. Die Übernahme der Betriebsmittel erfolgte dann auf der Grundlage eines gesonderten Übergabevorgangs nach näherer Maßgabe der Absätze 3 und 4. Die tatsächliche und rechtliche Verfügungsmöglichkeit (§ 5 Abs. 1 KVG) über das Vermögen des VEB Gebäudewirtschaft hat die Beklagte aber vor dem 3. Oktober 1990 nicht im Rahmen dieses förmlichen Verfahrens erlangt.
Gegen einen gesetzlichen Betriebsinhaberwechsel spricht auch die Regelung in Art. 22 Abs. 4 Satz 1, 3 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 (BGBl II S. 885, 895 f.), nach der das Vermögen und die anteiligen Schulden der volkseigenen Wohnungswirtschaftsbetriebe in das Vermögen der Kommunen übergehen. Dieser Norm hätte es nicht bedurft, wenn der Übergang bereits mit Inkrafttreten des Kommunalvermögensgesetzes erfolgt wäre.
Für einen rechtsgeschäftlichen Betriebsübergang (§ 59 a AGB-DDR – 1990 -) bis zum Abschluß des Vergütungstarifvertrages am 21. September 1990 fehlt es an Feststellungen des Landesarbeitsgerichts.
3. Die bis zum 3. Oktober 1990 gegenüber dem VEB Gebäudewirtschaft R entstandenen Vergütungsansprüche des Klägers sind mit Wirkung vom selben Tag auf die Beklagte im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übergegangen.
Durch Art. 22 Abs. 4 Satz 1 bzw. 3 Einigungsvertrag werden den Kommunen das zur Wohnungsversorgung genutzte Vermögen und die anteiligen Schulden der ehemals volkseigenen Wohnungswirtschaftsbetriebe übertragen (BAG Urteil vom 30. Juni 1994 – 8 AZR 544/92 -, zur Veröffentlichung vorgesehen, zu C I 1 b der Gründe). Von dieser Regelung wird nach ihrem Wortlaut nicht nur der von volkseigenen Wohnungswirtschaftsbetrieben verwaltete Wohnraum, sondern werden auch deren sämtliche Betriebsmittel erfaßt. Diese stellen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch wie auch der Rechtssprache Aktivvermögen der Wohnungswirtschaftsbetriebe dar.
Durch die im Einigungsvertrag angeordnete Gesamtrechtsnachfolge ist das Arbeitsverhältnis des Klägers auf die Beklagte übergegangen. Bei der Gesamtrechtsnachfolge tritt der Rechtsnachfolger in alle arbeitsrechtlichen Rechte und Pflichten, auch von bereits beendeten Arbeitsverhältnissen ein (vgl. Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7. Aufl., § 117 I 2). Zu den arbeitsrechtlichen Pflichten der Beklagten zählt auch der Ausgleich der bis zur Übernahme entstandenen Vergütungsrückstände.
II. Seit dem 3. Oktober 1990 fanden die Normen des Vergütungstarifvertrages vom 3. August/21. September 1990 kraft Nachwirkung auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung.
1. Mit Wirksamwerden der Regelungen des Art. 22 Abs. 4 Einigungsvertrag am 3. Oktober 1990 sind die Voraussetzungen für die Anwendung des Vergütungstarifvertrages kraft beiderseitiger Tarifbindung entfallen.
An einen Verbandstarifvertrag sind die Mitglieder der abschließenden Tarifvertragsparteien (§ 3 Abs. 1 TVG) tarifgebunden. Die Beklagte war nicht Mitglied des Verbandes der Wohnungsgenossenschaften der DDR. Die ursprünglich durch den VEB Gebäudewirtschaft R begründete Mitgliedschaft ist nicht durch die im Einigungsvertrag angeordnete Gesamtrechtsnachfolge auf die Beklagte übergegangen. Nach § 38 BGB wird die Mitgliedschaft in einem Verein nicht ohne weiteres übertragen. Im Fall einer Rechts- oder Funktionsnachfolge setzt sich die Mitgliedschaft nicht beim Rechtsnachfolger fort, soweit nicht die Satzung gemäß § 40 BGB eine abweichende Regelung vorsieht (BAG Urteil vom 4. Dezember 1974 – 5 AZR 74/75 – AP Nr. 2 zu § 3 TVG, zu 2 b der Gründe; BAG Urteil vom 5. Oktober 1993 – 3 AZR 586/92 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen, zu I 2 a der Gründe; vgl. auch Senatsurteil vom 10. November 1993, aa0, zu B II 2 b der Gründe; BGH Urteil vom 30. Juni 1980 – II ZR 186/79 – WM 1980, 1286). Die Mitgliedschaft des VEB Gebäudewirtschaft R im Verband der Wohnungsgenossenschaften ist mit dem 3. Oktober 1990 erloschen und nicht von der Beklagten fortgeführt worden.
2. Die unmittelbare und zwingende Fortgeltung des Vergütungstarifvertrages ergibt sich nicht schon aus einer direkten oder entsprechenden Anwendung des § 3 Abs. 3 TVG.
Nach der genannten Vorschrift endet die Tarifgebundenheit erst bei Beendigung des Tarifvertrages. Die Regelung erfaßt aber nur die durch Mitgliedschaft in den Tarifvertragsparteien begründete Tarifbindung. Sie ist auf das Verhältnis des nicht tarifgebundenen Rechtsnachfolgers zu dem verbandsangehörigen Arbeitnehmer nicht anwendbar.
Für eine Analogie dieser Norm fehlt es in den Fällen der Gesamtrechtsnachfolge an einer Vergleichbarkeit mit dem zugrunde liegenden Sachverhalt. Der selbstbestimmte Austritt des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband steht dem gesetzlich angeordneten Vermögensübergang nicht gleich, auf den der Rechtsnachfolger regelmäßig keinen Einfluß hat. Ob eine entsprechende Anwendung von § 3 Abs. 3 TVG auf den Rechtsnachfolger mit dessen Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) unvereinbar wäre (vgl. BAG Urteil vom 5. Oktober 1993 – 3 AZR 586/92 – AP, aa0, zu I 2 b der Gründe), bedarf daher keiner Entscheidung.
3. Der Anspruch des Klägers auf Vergütung nach dem Vergütungstarifvertrag ergibt sich für den Zeitraum vom 3. Oktober 1990 bis zum 30. Juni 1991 aus einer entsprechenden Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG.
Eine unmittelbare Anwendung dieser Vorschrift scheidet aus. Mit „Ablauf“ des Tarifvertrages i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG wird lediglich seine zeitliche Beendigung angesprochen (BAG Urteil vom 18. März 1992 – 4 AZR 339/91 – AP Nr. 13 zu § 3 TVG).
§ 4 Abs. 5 TVG ist aber bei Wegfall der Tarifbindung infolge Gesamtrechtsnachfolge entsprechend anzuwenden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Rechtsvorgänger an einen Verbandstarifvertrag gebunden war. Wie bei Bestehen eines Firmentarifvertrages zu entscheiden ist, bleibt offen.
Der Senat hat bereits § 4 Abs. 5 TVG im Wege der Analogie auf Fallgestaltungen angewandt, in denen die Tarifbindung entfallen war, um das Arbeitsverhältnis mit seinem bisherigen Regelungsinhalt aufrechtzuerhalten (BAG Urteil vom 18. März 1992 – 4 AZR 339/91 – AP, aaO; vgl. auch BAG Urteil vom 2. Dezember 1992 – 4 AZR 277/92 – AP Nr. 14 zu § 3 TVG, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen).
a) Die Entscheidung des Senats hat im Schrifttum neben Zustimmung (Krebs, SAE 1993, 133, 139) auch Kritik hervorgerufen (Löwisch/Rieble, Anm. zu BAG AP Nr. 13 zu § 3 TVG). Im wesentlichen wird gegen die entsprechende Anwendung von § 4 Abs. 5 TVG eingewandt, die Nachwirkung setze die fortbestehende Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien voraus, weil sie auf einer abgeschwächten und dispositiven Rechtsnormwirkung der Tarifnormen beruhe, die entweder einer mitgliedschaftlichen oder staatlich-demokratischen Legitimation bedürfe. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der Norm, der den Fortbestand der beiderseitigen Mitgliedschaft in den Tarifvertragsparteien verlange („Rechtsnormen … gelten weiter“). Hierfür spreche auch die Überbrückungsfunktion der Nachwirkung, die einen regelungslosen Zustand bis zum Neuabschluß eines Tarifvertrages verhindern solle.
b) Der Senat hält auch unter Berücksichtigung dieser Einwände an seiner bisherigen Rechtsprechung fest. Jedenfalls bei Wegfall der Tarifbindung bei einer Gesamtrechtsnachfolge ist eine Heranziehung des Rechtsgedankens des § 4 Abs. 5 TVG zur Lückenausfüllung geboten.
aa) Es liegt ein vergleichbarer Sachverhalt wie bei der vom Gesetz in § 4 Abs. 5 TVG erfaßten Fallgestaltung vor. Bei Wegfall der Tarifbindung infolge Gesamtrechtsnachfolge besteht kein Rechtsgrund mehr für die Fortgeltung des Tarifinhalts im Individualarbeitsverhältnis nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG. Für die Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis ist es aber ohne Bedeutung, ob der Wegfall der Tarifnormen auf der Beendigung des Tarifvertrages (§ 4 Abs. 5 TVG) oder auf dem Wegfall der Tarifbindung des Rechtsvorgängers beruht. Sinn und Zweck von § 4 Abs. 5 TVG ist es gerade, die bisherigen tariflichen Regelungen jedenfalls für eine Übergangszeit zu erhalten. Die Vorschrift ist eine Schutznorm für den Arbeitnehmer und hat im wesentlichen eine Überbrückungsfunktion. Durch die Fortgeltung der bisherigen kollektiven Ordnung im Wege der Nachwirkung soll vermieden werden, daß das Arbeitsverhältnis inhaltsleer und durch dispositives Gesetzesrecht bzw. einseitige Leistungsbestimmungen des Arbeitgebers ersetzt wird. Daneben liegt es im Interesse des Arbeitgebers, wenn die bisherigen Arbeitsbedingungen zunächst fortgelten, weil er nicht ohne weiteres rechtlich und tatsächlich in der Lage sein wird, ein tarifliches Regelungswerk und seine Ordnungsfunktion zu ersetzen (Senatsurteil vom 18. März 1992 – 4 AZR 339/91 – AP, aa0; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 4 Rz 185).
bb) Die aufgetretene Regelungslücke ist auch planwidrig, sie beruht nicht auf einer willentlichen Entscheidung des Gesetzgebers. Durch § 4 Abs. 5 TVG sollte lediglich klargestellt werden, daß Tarifverträge entgegen der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts nach ihrem Ablauf noch Nachwirkung entfalten (ausführlich dazu Herschel, ZfA 1976, 89, 94 ff.).
cc) Die Nachwirkung des Tarifvertrages nach § 4 Abs. 5 TVG setzt nicht den Fortbestand der beiderseitigen Mitgliedschaft der Arbeitsvertragsparteien in den tarifschließenden Verbänden voraus.
Im Nachwirkungszeitraum eines Tarifvertrages kommt seinem normativen Teil eine von § 4 Abs. 1 TVG unterschiedliche Rechtsnormqualität zu. Eine unmittelbare und zwingende Wirkung können die Rechtsnormen eines Tarifvertrages nur bei beiderseitiger Tarifgebundenheit oder Allgemeinverbindlicherklärung entfalten. Nach dem Ende der Tarifbindung fehlt es aber an einer Legitimation für die bisherige Rechtsnormerstreckung auf die ehemals tarifunterworfenen Arbeitsverhältnisse. § 4 Abs. 5 TVG schafft deshalb einen neuen und selbständigen Rechtsgrund für den Fortbestand des bisherigen Tarifinhalts zwischen den Arbeitsvertragsparteien bis zu einer anderen Abmachung. Aufgrund der gesetzlichen Regelung wird nach Ablauf des Tarifvertrages ohne Unterbrechung ein mit den bisherigen Tarifnormen inhaltsgleiches dispositives Recht für den Personenkreis geschaffen, der zuvor von der unmittelbaren und zwingenden Wirkung des Tarifvertrages erfaßt war (BAGE 65, 359, 363 = AP Nr. 19 zu § 4 TVG Nachwirkung, zu 4 b der Gründe; BAG Urteile vom 14. Februar 1991 – 8 AZR 166/90 – AP Nr. 10 zu § 3 TVG; vom 29. Januar 1975 – 4 AZR 218/74 – AP Nr. 8 zu § 4 TVG Nachwirkung).
dd) Der Wortlaut von § 4 Abs. 5 TVG steht einer Fortgeltung des bisherigen Tarifinhalts kraft Gesetzes nicht entgegen. Er enthält keine eindeutige Aussage über den Rechtsgrund des nachwirkenden Tarifinhalts. Aus dem Ausdruck „Rechtsnormen gelten weiter“ kann nicht geschlossen werden, daß die Weitergeltung auf dem bisherigen Rechtsgrund beruht, der nach den § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 4 TVG die beiderseitige Tarifbindung oder Allgemeinverbindlicherklärung voraussetzt. Mit „Rechtsnormen“ wird nach der Legaldefinition des § 1 Abs. 1 2. Halbsatz TVG nur der Inhalt des normativen Teils des Tarifvertrages bezeichnet. Eine besondere Legitimation verlangt der Gesetzeswortlaut in § 4 Abs. 5 TVG für die Nachwirkung gerade nicht.
ee) Auch die Überbrückungsfunktion der Nachwirkung erfordert nicht den Fortbestand der beiderseitigen Verbandsmitgliedschaft im Nachwirkungszeitraum. Eine solche einschränkende Auslegung des Tarifvertrages wäre nur dann gerechtfertigt, wenn als ablösende Vereinbarungen nur Tarifverträge mit identischen Tarifvertragsparteien in Betracht kämen. Der neue Tarifvertrag könnte dann das Arbeitsverhältnis nur unter den Voraussetzungen der § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG erfassen. Dies ist aber nicht der Fall. Das Ende der Nachwirkung ist gerade nicht von einem neuen Tarifabschluß abhängig. Folgeregelungen können nicht nur Tarifverträge, sondern nach dem Wortlaut von § 4 Abs. 5 TVG sämtliche individual- oder kollektivrechtlichen Vereinbarungen sein.
ff) Die praktischen Auswirkungen der hier vertretenen Auslegung von § 4 Abs. 5 TVG zwingen zu keiner anderen Sichtweise.
Unerheblich ist, daß der aus dem Arbeitgeberverband ausgetretene Arbeitgeber eine „Beseitigungslast“ für den nachwirkenden Tarifinhalt hat (Löwisch/Rieble, Anm. zu BAG AP, aa0). Es liegt nicht im Normzweck der Nachwirkung, dem Arbeitgeber eine erleichterte Änderung der Arbeitsbedingungen zu Lasten des Arbeitnehmers zu ermöglichen. Nach ihrer Entstehungsgeschichte ist die Vorschrift eine Schutznorm zugunsten der Arbeitnehmer, die gerade der Aufrechterhaltung der bisherigen Arbeitsbedingungen für eine Übergangszeit bis zu einer anderen Abmachung dienen soll.
Der Senat hält es gerade im Interesse beider Arbeitsvertragsparteien für geboten, § 4 Abs. 5 TVG bei Wegfall der Tarifbindung infolge Gesamtrechtsnachfolge entsprechend anzuwenden. Würde in diesen Fällen der gesamte Tarifinhalt seine Gültigkeit verlieren, so wären hiervon sämtliche Ordnungsnormen eines etwa geltenden Manteltarifvertrages erfaßt. Nur für den Bereich der Vergütung schließt § 612 Abs. 2 BGB die so entstandene Lücke. Hingegen fehlt es für die formellen Arbeitsbedingungen des Tarifvertrages, an deren Aufrechterhaltung auch der Arbeitgeber ein Interesse hat, an einer vergleichbaren gesetzlichen Regelung.
Ein solches Ergebnis stünde nicht mit den aus § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB zum Ausdruck kommenden Wertungen in Einklang. Bei den dieser Norm zugrunde liegenden Sachverhalten besteht regelmäßig ebenfalls keine Tarifbindung des Betriebserwerbers an den bisherigen Tarifvertrag. § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB ordnet für diesen Fall gerade die Fortgeltung aller bisherigen kollektivrechtlichen Normen auf individualrechtlicher Ebene an. Dann ist es nicht einzusehen, warum es bei einem gesetzlich angeordneten Betriebsübergang und dem damit verbundenen Fortfall der Tarifbindung zu keiner oder nur zu einer auf den Bereich der Vergütung beschränkten inhaltlichen Fortgeltung der bisherigen kollektivrechtlichen Normen kommen soll.
gg) Hingegen scheidet eine entsprechende Anwendung von § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB aus. Diese Norm ist aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte weder auf der Tatbestands- noch Rechtsfolgenseite analogiefähig. Sie beruht ausschließlich auf der Transformation der EG-Richtlinie 77/187/EWG vom 14. Februar 1977 (ABl EG Nr. L 61 S. 26) in nationales Recht, die sich auf die Tatbestände des rechtsgeschäftlichen Betriebsübergangs und der Verschmelzung und Umwandlung von Unternehmen beschränkt. Es fehlt bereits an Anhaltspunkten aus dem Gesetzgebungsverfahren, daß der Gesetzgeber über die konkreten Vorgaben der genannten EG-Richtlinie die individualrechtliche Fortgeltung von Kollektivnormen auch außerhalb der genannten Tatbestände zulassen wollte. Andererseits unterscheiden sich § 613 a BGB und § 4 Abs. 5 TVG in ihren Rechtsfolgen nicht so erheblich, daß unerträgliche Wertungswidersprüche auftreten würden. Zu einer Änderung des bisherigen Tarifinhalts bedarf es stets einer Vereinbarung.
4. Die Fortgeltung des Vergütungstarifvertrages vom 3. August/21. September 1990 kraft Nachwirkung verletzt die Beklagte weder in ihrem grundgesetzlich garantierten Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) noch stellt sie einen rechtswidrigen Eingriff in ihre Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) dar.
a) Entgegen der Auffassung der Revision führt die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung der tariflichen Vergütung bis zu einer anderen Vereinbarung nicht zu einer Verletzung der durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Finanzhoheit. Diese gewährleistet den Kommunen lediglich eine eigenverantwortliche Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft, was aber nur die Garantie eines selbstbestimmten Wirtschaftens mit Einnahmen und Ausgaben einschließt. Nicht geschützt sind sie gegen eine Auferlegung von weiteren kostenträchtigen Aufgaben (vgl. zuletzt BVerfG Kammerbeschluß vom 15. November 1993 – 2 BvR 1199/91 – NJ 1994, 171, m.w.N.). Da bei Wirksamwerden des Einigungsvertrages die Versorgung ihrer Bürger nach § 59 Kommunalverfassungsgesetz bereits zu ihren Aufgaben zählte, stellt die mit der Gesamtrechtsnachfolge verbundene Personalübernahme keinen mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbaren Eingriff dar.
Keiner Entscheidung bedarf es, ob von dem grundgesetzlich geschützten Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden eine angemessene oder jedenfalls eine Mindestausstattung mit Finanzmitteln umfaßt ist. Die Beklagte hat jedenfalls nicht substantiiert dargelegt, warum sie nicht in der Lage sein soll, die wegen der Nachwirkung des Vergütungstarifvertrages erforderlichen Mittel für die hiervon betroffenen Bediensteten aufzubringen.
b) Schließlich wird durch die Nachwirkung der Tarifnormen nicht in die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) der Beklagten eingegriffen. Es ist schon nicht ersichtlich, daß durch das Bestehen von lediglich nachwirkenden Tarifnormen ein unzulässiger Druck auf ihre Entscheidung ausgeübt wird, die Mitgliedschaft in einer Arbeitgeberkoalition zu erwerben oder ihr fernzubleiben.
III. Dem Kläger steht die mit der Klage geltend gemachte tarifliche Vergütung auch in der begehrten Höhe zu. Er ist aufgrund seiner ausgeübten Tätigkeit in die LohnGr. IV des Vergütungstarifvertrages vom 3. August/21.September 1990 eingruppiert. Zwar hat das Landesarbeitsgericht keine Feststellungen über die ausgeübte Tätigkeit und die hierfür erforderliche Berufsqualifikation des Klägers getroffen. Es bedarf aber keiner Zurückverweisung des Rechtsstreits, da der Senat eine abschließende rechtliche Beurteilung selbst vornehmen kann. Die Parteien haben in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend erklärt, daß der Kläger für seine ausgeübte Tätigkeit als Heizwart über die erforderliche Berufsausbildung verfügt. Über die rechnerische Höhe der auf den streitbefangenen Zeitraum entfallenden Differenzvergütung besteht zwischen den Parteien kein Streit.
IV. Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.
Schaub Schneider Friedrich
Jansen Gotsche
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Fundstellen:
NZA 1995, 479
DB 1994, 1527
> BAG, 19.04.2012 – 6 AZR 622/10